IST GEDULD NOCH ZEITGEMÄSS?
Im Wörterbuch findet man diese Beschreibung: Geduld, Substantiv, feminin – ruhiges und beherrschtes Ertragen von etwas, was unangenehm ist oder sehr lange dauert.
Unlängst in einem gefüllten Wartezimmer seufzte – unvermittelt und deutlich für alle Wartenden hörbar – eine Dame: „Die haben uns bestimmt vergessen.“ Wer sind die und was meint uns? Dachte ich und fühlte mich gestört. Niemand der Anwesenden reagierte, auch ich las weiter. „Ich warte hier schon seit Stunden.“ klagte es, wie aus einem tiefen Kerker. Echt jetzt? Aus und vorbei, an lesen war nicht mehr zu denken. Vorsichtshalber hielt ich meine Augen auf meine Lektüre gerichtet, um nicht antworten zu müssen, wo ich nicht antworten konnte. „Die lassen mich bestimmt absichtlich so lange warten, das kennt man ja.“ Aha, aus dem uns wurde ein ich, geschuldet der Tatsache, dass immer noch keiner der Anwesenden Notiz, geschweige denn Anteil nahm. Doch die Stimmung im Raum veränderte sich. Da kam sie, die Attacke auf die Sitznachbarin: „Wie lange warten SIE denn schon?“ wurde diese zum Bündnis eingeladen.
„Zwei Stunden“ entgegnete diese trocken und emotionslos mit tiefer, fester Stimme. Sie blickte dabei nicht einmal von ihrem Lesestoff auf. „Wir befinden uns hier in einer Notaufnahme. Allein das Wort beinhaltet eine gewisse Priorisierung der Patienten durch das Ärzteteam. Sie sitzen hier seit ca. 40 Minuten und wenn Sie sich nicht in Not befinden, was hält Sie hier?“ Alle Anwesenden blickten auf. Das war ja mal eine Antwort. Kontenance in Vollendung. Warum fällt mir sowas nie im richtigen Moment ein?
Geduld, eine altmodische Tugend? Läuft alles plangemäß, denken wir gar nicht darüber nach und wenn doch, dann flüchtig. Keine Zeit, keine Zeit, wie das weiße Kaninchen im Märchen. Zeit und Geduld sind miteinander verlobt und im täglichen schnell, schnell geht beides unter. Bis man registriert, dass Urlaub bitter nötig ist, der dieses Mal in einem Wellnessresort verbracht wird. Sitzend, schweigend, im höheren Preissegment angelegt. Wartend. Endlich Zeit?
Als ich ins Sprechzimmer gerufen werde, entschuldigte sich die Ärztin für die lange Wartezeit. „So hatte ich wieder einmal Zeit zum Lesen“ entgegnete ich „es gibt Freizeitangebote, da zahlen Menschen viel Geld dafür, dass sie sitzen und schweigen dürfen.“ Schob ich nach. „Trotzdem danke, für die Entschuldigung.“ Mich trifft ein irritierter, doch liebevoller Blick.
Ist Geduld noch zeitgemäß? Es kommt wohl auf die Bedeutung an, die wir dem zu Erwartenden geben und wie diese Wartezeit von jedem selbst empfunden und bewertet wird. Wir haben die Freiheit, diesbezüglich eine Entscheidung zu treffen. Auf aktuell herausfordernde Zeiten, die uns allen viel Geduld abverlangen, zu verweisen, erspare ich Ihnen und mir. Und – warten wir nicht unser ganzes Leben lang auf irgendetwas?
Ich trainiere diese Tugend mit wechselndem Erfolg. Es fällt mir jedoch immer häufiger auf, wie ich reagiere, werde ich ungeduldig. Dann übe ich mich – gemäß dem Wörterbuch – in ruhigem und beherrschtem Ertragen, von etwas, was unangenehm ist oder sehr lange dauert.